Nach seinen Brüdern Fritz und Ludwig war Ottmar Walter der Drittgeborene von insgesamt fünf Walter-Geschwistern. Niemand konnte damals ahnen, dass er und sein ältester Bruder Fritz zwei Jahrzehnte später mit dem Gewinn des ersten deutschen WM-Titels Fußballgeschichte schreiben und mit den Erfolgen des 1. FC Kaiserslautern auch das Fußballgeschehen in Deutschland maßgeblich prägen würden. Ottmar Walter, der am 6. März 1924 das Licht der Welt erblickte, wäre heute 97 Jahre alt geworden. Zu diesem besonderen Tag erinnern Matthias Gehring und Hans Walter vom FCK-Museumsteam an den Weltmeister von 1954.
Kaum dem Krabbelalter entronnen, nutzten viele Jungs in der damaligen Zeit oft jede freie Minute, um auf Bolzplätzen oder in den Gassen der Stadt einem ballähnlichen Gegenstand nachzujagen und auf Torejagd zu gehen. In jenen Jahren ein alltägliches Bild, war das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen jener Jahrzehnte mangels Angebotsalternativen und wirtschaftlich meist bescheidenen Familienverhältnissen doch sehr von kreativer Improvisationskunst abhängig. Gekickt wurde dabei mal mit einer Konservendose, mal mit einem selbst geschnürten Stoffbällchen oder einem schnöden Gummiball. Im Falle der drei Walter-Brüder Fritz, Ludwig und Ottmar vornehmlich in der Uhlandstraße (heute Heinrich-Heine-Straße), einer Nebenstraße der Bismarckstraße, an deren Ecke das Elternhaus mit Gaststätte stand, die Vater Ludwig und Mutter Dorothea als FCK-Vereinskneipe führten. Die in den Bordstein eingelassenen Kanaleinläufe dienten den Jungs als Torgehäuse, woraus sich der Terminus „Kanälches“ ableitete. Mit den intuitiv erworbenen Fertigkeiten, die den Typus des Straßenfußballers so unvergleichlich machen, ebneten sich die Jungs quasi unbewusst und autodidaktisch den Weg zu höheren Aufgaben.
Das Kicken „uff de Gass“ war für Ottmar und seine Brüder Freizeitvergnügen, Leidenschaft und Sport gleichermaßen. Doch für ihre Fußballbegeisterung reichte den Jungs das „Kanälcheskicken“ bald nicht mehr aus. Nach und nach traten sie im Alter von jeweils acht Jahren in die Schülermannschaft des 1. FC Kaiserslautern ein, wo ihnen die auf dem Kopfsteinpflaster erworbenen Fertigkeiten die Basis boten, zu ausgezeichneten Fußballern heranzureifen. Bereits mit 16 Jahren ließ Ottmar Walter die ehrgeizige Überzeugung durchblicken, dass er es so wie sein vier Jahre älterer Bruder Fritz eines Tages ebenfalls in die Nationalelf schaffen würde. Sein skeptischer Vater verkannte zunächst das Talent seines zweitgeborenen Sohnes und riet seinem Ottmar, es mit dem Fußball besser sein zu lassen. Doch Ottmar Walter, der als gelernter Autoschlosser zwischenzeitlich schon mit einer Karriere als Rennfahrer geliebäugelt hatte, setzte sich durch und gehörte ab der Spielzeit 1941/42 der Ligamannschaft des 1. FC Kaiserslautern in der Gauliga Westmark an. Natürlich bedeutete der 1939 ausgebrochene Zweite Weltkrieg auch für Ottmar und seine Familie eine schmerzliche Zäsur. Wie viele hervorragende Fußballer musste auch er seine Karriere unterbrechen.
Im Sommer 1942 musste auch Ottmar Walter zum Militär. Er meldete sich freiwillig zur Kriegsmarine und war im Verlauf des Krieges im niederländischen Breda und in Den Helder, in Kiel-Wik, in Cuxhaven und in Brest stationiert. Als sogenannter „Kriegsgastspieler“ spielte er bei Holstein Kiel und dem Cuxhavener SV. In der Endrunde der deutschen Meisterschaft 1943 belegte er mit den Kieler „Störchen“ durch einen 4:1-Sieg gegen Vienna Wien sogar den dritten Platz. Zwei Monate später, am 15. August 1943, verstärkte Ottmar Walter den Cuxhavener SV im Pokalspiel gegen den späteren Sieger LSV Hamburg und erzielte beim 1:3 den Gegentreffer.
Während der Invasion der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, wurde das Minensuchboot, zu dessen Besatzung Ottmar Walter gehörte, im Ärmelkanal von einem amerikanischen Zerstörer beschossen und versenkt. Von den 135 Männern an Bord des Bootes überlebten nur zwölf – Ottmar war unter ihnen, erlitt jedoch durch mehrere Granatsplitter eine schwere Verletzung am Knie. Er wurde nach England in Gefangenschaft gebracht. Einem geschickten Chirurgen gelang es, die Splitter aus Ottmars Knie zu entfernen und somit das Bein zu retten. „Mit zehn Kilo an jedem Fuß wippte ich stun¬den¬lang unter unbe¬schreib¬li¬chen Schmerzen“, beschrieb Ottmar Walter einmal seine Bemühungen sein Bein wieder fit zu kriegen und sich damit die Perspektive aufs Fußballspielen zu bewahren. Es sollte ihm gelingen und Ottmar Walter konnte nach dem Krieg seine Karriere fortsetzen. Am 2. Oktober 1946 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und kehrte nach Kaiserslautern zurück. Dort hatte Fritz Walter, der zusammen mit Bruder Ludwig bereits ein Jahr zuvor durch eine glückliche Fügung einer längeren Kriegsgefangenschaft entronnen und in die Pfalz zurückgekehrt war, damit begonnen eine neue FCK-Mannschaft aufzubauen. So entstand langsam aber stetig die künftig so berühmte „Walter-Mannschaft“ als eine Mischung aus jungen Talenten und den nach und nach aus der Gefangenschaft zurückkehrenden Spielern.
Für Ottmar brachen an der Seite von Fritz die glanzvollsten Jahre seines Fußballerlebens an. Der jüngste der Walter-Brüder avancierte zum erfolgreichsten Liga-Torschützen in der Geschichte des FCK, wobei er bis zum Ende seiner Karriere 321 Pflichtspiele für die Roten Teufel absolvierte, in denen er sagenhafte 336 Tore erzielte! 1948 stand er mit seinem 1. FC Kaiserslautern erstmals in einem deutschen Endspiel, 1951 und 1953 konnte jeweils die deutsche Meisterschaft nach Kaiserslautern geholt werden, 1948, 1954 und 1955 wurde er immerhin Vizemeister. Als 1950 eine deutsche Nationalmannschaft wieder internationale Begegnungen austragen durfte, zählte Ottmar zum Aufgebot der deutschen Elf für das erste Nachkriegsspiel! Was ihm angeblich auch ein ganzes Fass Bier eingebracht haben soll. Bruder Fritz soll gemeinsam mit Vater Ludwig Monate davor eine Wette eingegangen sein – ein Fass für Ottmar, falls der es jemals zum Aus¬wahl¬spieler bringen würde. „Das wird er im Leben nicht“, soll Fritz entgegnet haben. Doch am 22. November 1950 stand Ottmar Walter im Nationaltrikot auf dem Platz. Als Ersatz¬mann für seinen ver¬letzten Bruder Fritz.
Zusammen mit den FCK-Größen Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer und Horst Eckel feierten die beiden Walter-Brüder dann im Jahre 1954 mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft in der Schweiz den größten Triumph ihrer Laufbahn, als sie in Bern im Endspiel 3:2 gegen Ungarn gewann. Zum ersten deutschen WM-Triumph trug Ottmar Walter in fünf Spielen vier Tore bei! Auf dem Spielfeld gab Ottmar Walter nicht nur in Form von atemberaubenden Sprints Gas, sondern definierte die Rolle des Mittelstürmers völlig neu. Obwohl äußerst kopfballstark, suchte er nicht nur im Strafraum sein Glück, sondern eroberte sich die Bälle selbst über die Außen. Dadurch machte er das „Wunder von Bern“ erst möglich. Auch weil er im Finale den ungarischen Abwehrchef Gyula Lorant so sehr beschäftigte, dass Helmut Rahn die entscheidenden Freiräume erhielt. Der Rest ist Geschichte.
Ottmar Walter stand zwar stets im Schatten des älteren Bruders, doch er arrangierte sich mit der Rolle. Weil er seinen Bruder eben auch bewunderte und weil beide wussten, dass der „Megastar“ ohne den „Superstar“ kaum in dem Maße glänzen konnte. Begrifflichkeiten, die man im damaligen Fußball noch gar nicht kannte, mit denen sich die beiden bescheidenen Walter-Brüder aber auch nie identifiziert hätten, wenn solcherlei Wortspiele damals schon gebräuchlich gewesen wären. Ein Beispiel der Kongenialität der beiden Brüder – das legendäre Hackentor von Fritz gegen den SC Wismut Karl-Marx-Stadt im Jahr 1956, zu dem letztlich Ottmar die entsprechende Flanke lieferte. Doch letzterer konnte in einem Spiel auch ganz alleine entscheidende Akzente setzen. Immerhin war es Ottmar Walter, der 1951 mit seinen beiden Toren zum 2:1 gegen Preußen Münster die erste Deutsche Meisterschaft für den FCK ermöglichte.
Nach mehreren Knie-Operationen beendete Ottmar Walter 1959 seine Karriere als Fußballspieler. In der Nachkriegszeit arbeitete er als Kurierfahrer für das Ernährungsamt. Ab 1953 betrieb er in Kaiserslautern eine Tankstelle, die er 1970 nach Vertragsende und juristischen Streitigkeiten aufgeben musste. Es folgten ein Autounfall und verschiedene gesundheitliche Probleme. In deren Folge bot ihm die Stadtverwaltung Kaiserslautern eine Anstellung an, die er bis zu seiner Pensionierung 1984 ausfüllte. Unter anderem in Folge seiner Kriegsverletzung, sollte ihn später eine unbarmherzige Reihe von Operationen einholen, die ihm künstliche Knie- und Hüftgelenke einbrachte. „Ich habe zwar vier Prothesen. Aber organisch bin ich kerngesund und bis auf eine Blinddarmoperation habe ich auch nie etwas gehabt!“, soll er sich im Alter von 77 Jahren einmal zu seinem physischen Zustand geäußert haben. Nach dem Tod von Bruder Fritz wurde Ottmar unter anderem für den DFB vermehrt auch in Repräsentationsaufgaben eingebunden. Darunter diverse Festakte zum Gewinn der WM 1954, Öffentlichkeitsarbeit für den Wortmann-Film „Das Wunder von Bern“, die WM-Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz oder Veranstaltungen im Lauterer Kulturzentrum Kammgarn. Zu seinem 80. Geburtstag wurde der Eingang zur Nordtribüne in „Ottmar-Walter-Tor“ umbenannt. Außerdem wurden ihm das Große Bundesverdienstkreuz und vom DFB der Ehrenschild verliehen.
Auf dem Betzenberg bleibt Ottmar Walter unvergessen, nicht nur ob seiner sportlichen Leistungen. Es bleibt auch die Erinnerung an einen großartigen Menschen, der wichtige Werte wie Bodenständigkeit, Vereinstreue und Glaubwürdigkeit vertreten hat. Im vergangenen Jahr wäre Fritz Walter 100 Jahre alt geworden, woran wir in vielfältiger Art erinnert hatten. Aufgrund der Corona-Pandemie leider viel bescheidener als ursprünglich geplant. In drei Jahren steht der 100. Geburtstag von Ottmar Walter an. Auch auf dieses Jubiläum arbeiten wir schon jetzt hin und wir werden auch an diesen runden Geburtstag eines großen Sportlers und großartigen Menschen gebührend erinnern. Versprochen, Ottes!