Am 4. Juli 1954 stand die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erstmals in einem Endspiel um die Weltmeisterschaft. Gegner war die Mannschaft aus Ungarn, die vor diesem Finalspiel als bestes Team der Welt galt und haushoher Favorit war.
Seit vier Jahren hatten die Magyaren kein Spiel mehr verloren, waren 1952 sogar Olympiasieger geworden und fügten der englischen Nationalmannschaft im November 1953 mit 6:3 im Londoner Wembley-Stadion die erste Niederlage auf heimischem Boden zu.
Und nun traf Deutschland im Endspiel im Wankdorfstadion zu Bern auf diese als „unbesiegbar“ geltende Wundermannschaft, die gut zwei Wochen zuvor im Gruppenspiel die Deutschen in Basel mit 8:3 geschlagen hatte. Auch wenn Bundestrainer Sepp Herberger diese Niederlage einkalkuliert und einige seiner Spieler in dieser Begegnung für kommende Aufgaben geschont hatte, prägten sich die spielerische Überlegenheit und die Dominanz der Ungarn bei den Fachleuten und Fans tief in das Bewusstsein ein.
Aber am späten Nachmittag des 4. Juli 1954 war Unfassbares geschehen. Die deutsche Mannschaft, vor dem Turnier als Außenseiter gehandelt, konnte die frühe 2:0-Führung der Ungarn ausgleichen und in einem packenden und spielerisch ansprechenden Kampf die vielgerühmten ungarischen Ballkünstler mit 3:2 besiegen.
Deutschland war überraschend Weltmeister geworden – und bald schon wurde das Endspiel im Wankdorfstadion als „Wunder von Bern“ verklärt.
War der Erfolg der Deutschen tatsächlich so etwas wie ein „Wunder“ – oder hatte er doch andere Ursachen?
Dazu darf man feststellen, dass sich die deutschen Spieler körperlich in hervorragender Verfassung befanden. Sepp Herbergers Trainingseinheiten hatten den Fußballern zu einer vorzüglichen Kondition verholfen und mit akribischer Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit vermittelte der Trainer seinen Männern seine taktischen und spieltechnischen Vorstellungen. Die Selbstdisziplin der Spieler, die oft aus freien Stücken noch zusätzliche Laufeinheiten bestritten, kam der Überzeugung Herbergers entgegen, einem spielerisch überlegenen Gegner – wie den Ungarn – könne nur mit äußerstem Einsatzwillen und nie nachlassender Konzentration erfolgreich begegnet werden.
Von hoher Bedeutung zeigten sich auch Herbergers psychologische Einwirkungen auf seine Spieler. In Vier-Augen-Gesprächen stimmte der Trainer seine Männer auf ihre besonderen Aufgaben in dem bevorstehenden Spiel ein. So sagte er beispielsweise seinem Läufer Mai, der den ungarischen Torschützenkönig Kocsic zu bewachen hatte: „Wenn Kocsic heute kein Tor schießt, haben Sie gut gespielt.“ Und Horst Eckel bekam mitgeteilt, dass er seinem Gegner überallhin zu folgen habe, selbst wenn er zur Toilette geht. Jupp Posipal erfuhr, dass er der wichtigste Mann für die deutsche Mannschaft sei: „Sie verstehen das Ungarische und können übersetzen, was die sich zurufen.“ Und als am Nachmittag über Spiez Wolken aufzogen und die ersten Regentropfen fielen, flüsterte Herberger seinem Kapitän zu: „Fritz – Ihr Wetter, Ihr Spiel.“
Psychologische Aufbauhilfe leistete überdies Italia Walter ihrem oft sensiblen Ehemann Fritz, dem die heftige Kritik nach der 5:1-Endspielniederlage seines FCK gegen Hannover 96 fünf Wochen zuvor schwer zu schaffen gemacht hatte. Kritiker schrieben damals, der Bundestrainer solle auf die „ausgebrannten Lauterer Spieler“ verzichten und den „alten Fritz Walter“ zu Hause lassen. Bald nach der Ankunft im Hotel Belvedere in Spiez erhielt Fritz einen bemerkenswerten Brief von seiner Ehefrau. In einfühlsamen Worten betonte Italia ihre Überzeugung, Fritz werde bei der Weltmeisterschaft allen zeigen, was er zu leisten vermag. Sie sprach ihrem Mann Mut und Zuversicht zu und zeigte sich überzeugt, dass die deutsche Mannschaft in der Schweiz nicht als Punktelieferant, sondern als Punktejäger auftreten werde.
Große Kameradschaftlichkeit und ein ausgeprägter „Teamspirit“, der so oft zitierte „Geist von Spiez“, bescherten der Mannschaft eine Harmonie, der sich auch die Ersatzspieler unterordneten, die nur wenige oder gar keine Einsätze bei der Weltmeisterschaft erhielten.
Fritz Walter war während des Turniers sowohl körperlich als auch mental in blendender Verfassung, wie er selbst – aber auch seine Kameraden – staunend feststellen konnten. Dass es am Nachmittag des Endspiels im Berner Oberland zu regnen begann, war für die Psyche und die Spielweise des Kapitäns von großem Vorteil – seit seiner Malaria-Erkrankung während seines Kriegseinsatzes auf der Insel Sardinien verabscheute Fritz große Hitze.
In einem Interview mit einem ungarischen Journalisten vor dem Finalspiel erklärte Sepp Herberger: „Wenn am Sonntag die Sonne scheint, wird Ungarn Weltmeister. Sollte es aber regnen, hätten wir eine Chance…“
Herberger hatte seine Mannschaft auf jede erdenkliche Weise auf ihren Endspielauftritt vorbereitet. Dabei standen ihm mit Dr. Franz Loogen ein Arzt, mit Erich Deuser ein fähiger Physiotherapeut und mit Adi Dassler ein gewiefter Schuhspezialist als unverzichtbare Helfer zur Seite. Dasslers Fußballschuhe mit den neuartigen Schraubstollen verschafften den deutschen Spielern einen kleinen Vorteil in Sachen Standfestigkeit.
Die deutsche Mannschaftsaufstellung hatte sich erst im Laufe des Turniers herauskristallisiert. Vor allem in der Abwehr hatte Herberger nach Versuchen mit Bauer und Laband die bestmögliche Formation Posipal-Liebrich-Kohlmeyer gefunden. Und auf Rechtsaußen erhielt seit seinem starken Auftritt gegen Jugoslawien Helmut Rahn den Vorzug vor Berni Klodt.
Ungarn konnte das Halbfinale gegen Uruguay erst nach Verlängerung 4:2 gewinnen. Der leicht errungene 8:3-Sieg gegen Deutschland in der Vorrunde verleitete die Magyaren dazu, die deutsche Endspielmannschaft zu unterschätzen. Für Fachjournalisten aus aller Welt war vor dem Spiel bereits klar, dass der neue Weltmeister Ungarn heißen würde.
Bei strömendem Regen pfiff Schiedsrichter William Ling aus England, flankiert von seinen Assistenten Griffith aus Wales und Orlandini aus Italien, vor 63.300 Zuschauern das Endspiel im Wankdorfstadion an. In der Bundesrepublik Deutschland konnten erst einige Zehntausend Fußballanhänger das Spiel im Fernsehfunk verfolgen, Millionen jedoch lauschten gebannt der emotionalen Reportage von Herbert Zimmermann an ihren Radiogeräten. Die Erwartungen der deutschen Fans schienen in sich zusammenzufallen, als es nach acht Minuten bereits 2:0 für Ungarn stand. Es drohte sich ein Debakel wie bei dem 8:3-Spiel in Basel anzubahnen und Herbert Zimmermann versuchte seine Zuhörer mit dem Hinweis zu trösten, dass schon das Erreichen des Finales ein Erfolg für den deutschen Fußball sei. Doch eine Minute später konnte er Maxl Morlocks Anschlusstreffer vermelden: „Gott sei Dank, es steht nicht mehr 2:0, es steht 2:1 – und das sollte unserer Mannschaft Mut und Zuversicht geben.“ In der 18. Spielminute ist Zimmermanns Begeisterung nicht mehr zu überhören: „Tor! Eckball von Fritz Walter, Tor durch Rahn… Deutschland, der großartige Sieger gegen Österreich hat aus 0:2 ein 2:2 gemacht…“
In der zweiten Halbzeit bemerkten Fachleute, dass die deutschen Spieler konditionell stärker waren als ihre Gegner. Toni Turek glänzte mit einigen Paraden, die Abwehr stand nun sicher und zuverlässig und Fritz Walter war ein großartiger Dirigent des deutschen Spiels. In der 84. Minute überschlug sich die Stimme von Herbert Zimmermann: „Schäfer hat sich gegen Boczik durchgesetzt… flankt… aus dem Hintergrund Rahn… müsste schießen… Rahn schießt… Tor, Tor, Tor, Tor…“ Zwei Minuten später schrie Zimmermann nach dem Abseitstor von Puskas: „Kein Tor, kein Tor… einwandfreie Abseitsstellung von Major Puskas…“ Nach zwei weiteren, schier endlos scheinenden Minuten, kann Zimmermann die Erlösung verkünden: „Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit 3:2 Toren!“
Vielen Fußballfreunden erschien das, was sie an den Rundfunkgeräten oder Fernsehbildschirmen erlebt haben, als ein Wunder. Neun Jahre nach dem Ende des katastrophalen Zweiten Weltkrieges hat Deutschland gegen die damals stärkste Mannschaft der Welt einen Sieg errungen. Dieser Erfolg war wunderbar, hatte aber ganz natürliche Ursachen und war vor allem der ausgezeichneten Vorbereitung und dem Einsatzwillen und Können der Spieler zu verdanken.
Die Weltmeister und ihr Trainer kehrten im modernsten Triebwagenzug der Deutschen Bundesbahn in ihre Heimat zurück. Die Deutschen hatten nach Jahren von Krieg, Angst und Entbehrungen endlich wieder einen Grund, sich über ein Ereignis zu freuen. Mit unvorstellbarer Begeisterung wurden die Weltmeister an jeder Station auf dem Weg nach München begrüßt, in Jestetten, in Singen, in Konstanz, in Lindau… Triumphal war insbesondere der Empfang der fünf Weltmeister vom 1. FC Kaiserslautern in ihrer Heimatstadt.
Fritz Walter, Ottmar Walter, Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer und Horst Eckel wurden in einem Autokorso durch Kaiserslautern geleitet; in vielen Teilen der Stadt war der Wiederaufbau nach den Kriegszerstörungen damals in vollem Gange. Der Wiederaufbau, das sich abzeichnende Wirtschaftswunder und das Bewusstsein, nach dem Sieg von Bern in der Welt wieder positiv wahrgenommen zu werden, waren wertvollste Begleiter der jungen Bunderepublik auf ihrem Weg in eine glückliche Zukunft.